Diversität im Kunst- und Kulturbetrieb in Deutschland:
Künstler*innen mit Behinderung sichtbar machen
Ein Positionspapier von EUCREA
THEMEN
Künstler*innen mit Behinderung vorgestellt: Kassandra Wedel, Jana Zöll, Matti Wustmann
„Who’s voice is in the room, who’s missing?“
Künstler*innen mit Beeinträchtigung: Von der Einschränkung zur Erweiterung
Arts Council England und der „Creative Case for Diversity“
Diversität im Kunst- und Kulturbetrieb: Die aktuelle Diskussion
Interkulturelle Öffnung
Strukturverändernde Programme zugunsten von Künstler*innen mit Beeinträchtigung
Exklusion durch spezifische Förderung?
Möglichkeiten der Übertragbarkeit des „Creative Case for Diversity“ des Arts Council England
Handlungsfelder
Zusammenfassung
Literatur
****
Kassandra Wedel
Tänzerin
Kassandra Wedel verlor mit vier Jahren ihr Gehör durch einen Unfall. Sie entdeckte, dass Tanzen auch ohne hörbare Musik über Vibration möglich ist. Kassandra Wedel ist Hip Hop Tänzerin und absolvierte ein Studium der Theaterwissenschaften und der Kunstpädagogik in München. Ein reguläres Tanz- oder Schauspielstudium erschien ihr nicht möglich. Das beginnt laut Wedel schon mit der Ausbildung auf Schauspielschulen, für die Gehörlose gänzlich ungeeignet erscheinen, weil der Unterricht dort auf Lautsprache und Sprecherziehung ausgerichtet ist. Heute arbeitet sie gelegentlich als Schauspielerin am Theater und war in der Fernsehserie „Tatort“ engagiert. Darüber hinaus unterrichtet sie Hörgeschädigte, Gehörlose und Hörende im Tanz. Sie nahm 2016 an der Tanzshow „Deutschland tanzt“ (ProSieben) teil und belegte dort den 1. Platz.
Jana Zöll
Schauspielerin
Jana Zöll ist Schauspielerin, hat Glasknochen und ist auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen. Nach ihrem Abitur absolvierte sie 2004 eine Schauspielausbildung an der Akademie für darstellende Kunst adk Ulm, die über ein EU-Programm einmalig einen Ausbildungsgang für Menschen mit Behinderungen finanziert bekommen hatte. Jana Zöll bewarb sich und wurde angenommen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie ein Schauspielstudium für sich nicht in Betracht gezogen, da die Ausbildungsinstitute „physische und psychische Gesundheit“ von ihren Bewerbern fordern. Während ihrer Ausbildung war keiner der Lehrkräfte auf ihre besondere Situation eingestellt – oder darauf vorbereitet, Übungen auf Ihre Bedürfnisse umzugestalten, sodass sie teilweise einfach ausfielen.
Nach ihrer Ausbildung war sie mehrere Jahre in der freien Szene tätig und wurde insbesondere für inklusive Theaterfestivals engagiert. Neben einigen Kurz- und Langfilmen war sie von 2014 bis 2017 festes Ensemblemitglied beim Staatstheater Darmstadt, das sie u.a. aus Unzufriedenheit mit dem (mangelnden) Rollenangebot verließ. Zurzeit macht sie eine Ausbildung zur systemischen Therapeutin und ist künstlerisch bei der Performing Arts Company Un-label engagiert. Aktuell ist sie daran interessiert, sich in Richtung Tanz und Performance weiterzubilden und nachzuholen, was ihr in der künstlerischen Ausbildung gefehlt hat: Die Funktionsmöglichkeiten ihres Körpers kennenzulernen und damit eine eigene Künstlerpersönlichkeit zu entwickeln.
Matti Wustmann
Bildender Künstler
Matti Wustmann ist bildender Künstler mit Asperger Syndrom. Er ist Teil des Künstlernetzwerkes barner16, einer Betriebsstätte von alsterarbeit gGmbH (Werkstatt für Menschen mit Behinderung WfbM) in Hamburg.
2009 machte er seinen Schulabschluss beim „Überregionalen Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt körperlich-motorische Entwicklung Neubrandenburg“. In einer einjährigen Maßnahme im Berufsbildungswerk Greifswald (eigenständige Ausbildungseinrichtung für Menschen mit Behinderungen) hatte er sich für das Berufsbild des Mediengestalters entschieden. Da dieser Orientierungskurs bereits belegt war und keine weiteren in dieser Richtung angeboten wurden, verrichtete er stattdessen Büroarbeiten und erhielt den Vorschlag, Gärtner zu werden. Bereits zu diesem Zeitpunkt zeichnete er in seiner Freizeit und hatte sich verschiedene Techniken der bildenden Kunst angeeignet.
Nach seinem Umzug nach Hamburg 2010 absolvierte er bei alsterarbeit gGmbH den zweijährigen Berufsbildungsbereich, in dem die Teilnehmer auf ihre spätere Tätigkeit in einer WfbM vorbereitet werden. Nach einem Praktikum in der Textil- und Siebdruckmanufaktur entschied sich Matti Wustmann 2012 für einen Arbeitsplatz in derselben, da er dort seine künstlerischen Talente erstmals entfalten kann.
Durch seine Teilnahme an dem Strukturprogramm ARTplus von EUCREA wurde es ihm ermöglicht, vier Semester lang als Gasthörer im Fachbereich Freie bildende Kunst an der Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg teilzunehmen. Bereits nach zwei Semestern war die Hochschule bereit, diese Vorbereitungszeit anstelle einer Aufnahmeprüfung anzuerkennen und Matti Wustmann als regulären Studierenden zu immatrikulieren. Ein Studium an einer Kunsthochschule wäre mit seinem Status als WfbM-Beschäftigter allerdings nicht vereinbar.
„Who’s voice is in the room, who’s missing?“
Abid Hussain, Arts Council England
Deutschland verfügt über eine vielfältige Kunst- und Kulturlandschaft. Kreative mit Beeinträchtigung sind ein Teil davon. Jedoch bildet der etablierte Kunst- und Kulturbetrieb diese Diversität nicht ausreichend ab.
Zwar gibt es insbesondere in den Metropolen Institutionen, Vereine und Initiativen, in denen Kreative mit Beeinträchtigungen tätig sind, jedoch sind diese Angebote überwiegend unter dem Dach oder in Kooperation mit einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) organisiert. Nicht zuletzt dieser Kontinuität ist es zu verdanken, dass viele Projekte und einzelne ihnen angeschlossene Künstler*innen weit über Deutschland hinaus bekannt geworden sind1.
Künstler*innen, die sich außerhalb der Behindertenhilfe beruflich orientieren wollen, sind meist auf ihr soziales Umfeld angewiesen. Angepasste Ausbildungsangebote, Assistenzleistungen oder Arbeitsmöglichkeiten sind eher eine Seltenheit und nicht die Regel.
Künstler*innen mit Behinderung:
Von der Einschränkung zur Erweiterung
Ausschlüsse auf verschiedenen Ebenen sind dafür verantwortlich, dass Kreative mit Beeinträchtigung in privaten und öffentlichen Kultureinrichtungen bislang kaum oder gar nicht zu finden sind – weder im künstlerischen Betrieb noch in der Rolle der Kulturvermittelnden. Für diese Gruppe mangelt es insbesondere an Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten, an baulicher und auf Information bezogener Barrierefreiheit sowie am Zugang zu strukturellen Hilfeleistungen. Auf Seiten der Kulturinstitutionen fehlt es insbesondere an Information und Erfahrung.
Dies hat zur Folge, dass die Öffentlichkeit Künstler*innen mit Beeinträchtigungen weiterhin als Ausnahme empfindet – und ihre künstlerischen Produktionen oftmals dem „Exotischen“ zugeordnet werden. Aktuell können Kreative mit Behinderungen nur selten Förderungen des Kultursektors in Anspruch nehmen. Dadurch wird verhindert, dass diese Künstlergruppe in den Mainstream gelangt. Und damit wiederum verpasst der Kultursektor eine bereichernde, hinterfragende, mitunter auch neue Perspektive auf sich selbst. Ziel einer diversitätsorientierten Kulturpolitik sollte es sein, dass für Künstler*innen mit Behinderungen sowohl spezifische als auch allgemeine Förderungen und Orte nebeneinander existieren.
Künstler*innen mit Beeinträchtigungen sollen im etablierten Kulturbetrieb ihren Platz haben – nicht nur, weil sie einen großen Bestandteil der Bevölkerung ausmachen, sondern auch, weil sie die künstlerische Vielfalt in Deutschland stärken. Die Vision einer diversitätsbasierten Kulturlandschaft betrifft nicht allein neue Akteure im künstlerischen Betrieb, in Personalstrukturen und im Publikum, sondern künstlerische Inhalte und Formen sowie den Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Um die kulturelle Teilhabe von Künstler*innen mit Beeinträchtigung nachhaltig verbessern zu können, bedarf es neuer, sich öffnender Strukturen – sowohl im Kunst- und Kulturbetrieb als auch in der Behindertenhilfe.
1 Vgl. Eucrea 2017, https://www.kubi-online.de/artikel/diversitaet-kunst-kulturbetrieb-
kuenstlerinnen-behinderungen-sichtbar-machen
Arts Council England und der
„Creative Case for Diversity“
Ein Blick auf Großbritannien zeigt, wie der Arts Council England mit dem „Creative Case for Diversity“ schon länger eine kulturpolitische
Strategie zur Diversifizierung von Kultureinrichtungen verfolgt und
erprobt. Es handelt sich um ein für zehn Jahre angelegtes Strukturprogramm, das die Förderung spezifischer Gruppen zum Ziel hat, die bislang im Kultursektor unterrepräsentiert sind. Vorhergehende Förderungen wurden insbesondere mit der moralischen oder gesetzlichen Verpflichtung, allen Menschen eine kulturelle Teilhabe zu ermöglichen, begründet.
Der „Creative Case“ thematisiert darüber hinaus die ästhetische oder auch künstlerisch-kreative Dimension, die eine Diversität im Kunst- und Kulturbetrieb mit sich bringt. Dem zugrunde liegt das Verständnis, dass Talente unabhängig von Alter, Geschlecht, Behinderungen oder kulturellem Hintergrund sind und Menschen erst durch die Gesellschaft behindert werden.
Das Konzept des Arts Council England sieht grundsätzlich vor, dass Mittelvergabe und Förderentscheidungen an den Nachweis gebunden werden, wie unterrepräsentierte Zielgruppen vermehrt Zugang zu den geplanten Angeboten finden. Dies gilt insbesondere für große, öffentlich finanzierte Kulturinstitutionen. In einer zuletzt veröffentlichten Evaluation des Arts Council England wird als Ziel genannt:
„[…] diversity should not be an add-on, but become integral to organisational thinking and creative planning.“
(Arts Council England 2018:48)
Der vorliegende Programmentwurf hat zum Ziel, das Prinzip der Diversität für Künstler*innen mit Beeinträchtigung im Kunst- und Kulturbetrieb einzufordern. Für den deutschen Kontext können einige der bereits in Großbritannien erprobten Strategien zum kulturpolitisch fundierten Strukturwandel übernommen werden (s. S.12).
Diversität im Kunst- und Kulturbetrieb: Die aktuelle Diskussion
Diversität und Sektionierung
Unter dem Begriff „Diversität“ wird im deutschen Kulturbetrieb aktuell vor allem die inter- und transkulturelle Gesellschaft gefasst, wie die folgende kurze Bestandsaufnahme zeigt. Die Diversitätsdimension Behinderung wird in der Zielgruppenansprache, bei Förderungen oder auch in der Kulturellen Bildung hingegen seltener berücksichtigt. Bislang arbeiten Institutionen und Verbände als Expert*innen überwiegend für jeweils eine gesellschaftliche Gruppe, um diese zu vertreten. Interessanterweise konnte bei der Recherche für dieses Positionspapier festgestellt werden, dass erst jetzt die ersten Ansätze sichtbar werden, im Kulturbereich verschiedene Diversitätsdimensionen gleichermaßen zu berücksichtigen.
Im Grunde fehlt es jedoch bislang an einem Zusammenschluss der ausgewiesenen Expert*innen in einer bundesweiten „Servicestelle“ für den Bereich Kultur, durch die gemeinsam und intersektional Veränderungen im Kunst- und Kulturbetrieb gebündelt und angestoßen werden können. Eine solche Servicestelle ist in Großbritannien mit dem „Creative Case for Diversity“ eingerichtet worden.
Interkulturelle Öffnung
Gesellschaftliche Hintergründe, die dazu geführt haben, dass die Notwendigkeit der interkulturellen Öffnung von Kulturinstitutionen auch von politischen Entscheidungsträgern und Förderergremien erkannt wurde, ist sehr vielen Akteur*innen zu verdanken. Vor allem zahlreiche Künstler*innen aus allen Sparten konnten sich zunehmend Gehör und ein Publikum verschaffen. Wissenschaftliche und kulturpo-
litische Forschungen und Studien zeigten auf, dass im Kultursektor bestimmte Gruppen nicht repräsentiert und stark exkludiert waren1.
Der politische Wille zur Veränderung, wenn auch zunächst zögerlich, ist beispielsweise dokumentiert in der vom Bundestag eingesetzten Enquête-Kommission zur „Kultur in Deutschland“ (2007). Der Bericht förderte einen Bedeutungszuwachs der Kulturellen Bildung (Kapitel 6) und erwähnte darin als eigenständiges Unterkapitel explizit auch die Interkulturelle Bildung (Kapitel 6.4) sowie als Förderbereich von besonderer Bedeutung die Migranten- kulturen/Interkultur (Kapitel 3.5.5). Zum Vergleich: Bezogen auf das Themenspektrum Kultur und Menschen mit Behinderungen findet sich nur eine Erwähnung, aber kein eigenständiges Kapitel.
Im Zuge dessen und als mögliche Lösung für drängende Bildungsfragen (vgl. PISA-Studien) stiegen die Förderungen der (außerschulischen) Kulturellen Bildung kontinuierlich und fanden ihren größten Niederschlag im bundesweiten Förderprogramm „Kultur macht stark“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.
In der Evaluation für den Zeitraum 2014-2015 wird angegeben, dass unter den angestrebten Zielgruppen Kinder und Jugendliche mit einer körperlichen und/ oder geistigen Behinderung die am wenigsten angestrebte Zielgruppe ist (31,5 %), von denen immerhin 22,5 % erreicht wurden. Kulturelle Bildung wird – nach wie vor – als Mittel zur Teilhabe und gegen Benachteiligungen empfohlen.
1 Publikationen, die sich im Sinne einer interkulturellen Öffnung explizit mit dem Themenfeld Kultur und Integration beschäftigen, sind beispielsweise Welz (1996), die Tagungsdokumentation der Kulturpolitischen Gesellschaft (2004), das Forschungsprojekt vom Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen (2008), Terkessidis (2010), die Studie des Deutschen Kulturrats (2010), das InterKulturBarometer (2012), die Symposiumsdokumentation der Komischen Oper Berlin (2014), der Sammelband von Hajusom (2014) oder auch das Projekt der Hamburger Werkstatt für Internationale Kultur und Politik „Orte der Vielfalt – interkulturelle Öffnung und Diversity Management“ (2015).
Akteur*innen mit Schwerpukt
Interkulturelle Öffnung
Für die Diversitätsdimension ethnische und kulturelle Herkunft – und damit im Sinne einer interkulturellen Öffnung – sind aktuell beispielsweise folgende kulturpolitisch agierende Akteur*innen und Programme im deutschsprachigen Raum zu nennen:
- Zukunftsakademie NRW (Bochum):
Plattform für Entwicklung, Durchführung und
Begleitung von diversitätsorientierten Projek-
ten und Prozessen. Sie veranstaltet Fachtreffen,
bietet Fortbildungsreihen an und realisiert
modellhaft Praxisprojekte. Behinderung wird
als Teil von Diversität beschrieben.
- Kulturstiftung des Bundes
Programm 360°, Fonds für Kulturen der neuen
Stadtgesellschaft: Das Programm fördert die
diversitätsorientierte und exemplarische
Öffnung von Kulturinstitutionen in den
Bereichen Programmangebot, Publikum und
Personal.
- Diversity.Arts.Culture. Berliner Projektbüro
für Diversitätsentwicklung
Vermittelt Expertise, stellt Erfahrungswissen zur
Verfügung und entwickelt Formate für Kultur-
einrichtungen, für die Kulturverwaltung und für
von Ausschlüssen betroffene Akteur*innen. In
Kooperations-Veranstaltungen wird zunehmend
auch die Diversitätsdimension Behinderung
berücksichtigt.
- Werkstatt für internationale Kultur und
Politik (Hamburg)
Projekt in:szene für vielfaltsensible Qualitäts-
entwicklung und Öffnungsprozesse. Beratung
von Kulturbetrieben und Kulturschaffenden,
Qualifizierungs- und Weiterbildungsprogramm,
Vernetzung
- Kompetenzverbund Kulturelle Integration
und Wissenstransfer KIWit
Verschiedene Partner bieten Workshops,
Fortbildungen sowie eine Online-Plattform
für Kulturschaffende und Institutionen.
Akteur*innen mit Schwerpunkt
Menschen mit Beeinträchtigung
Für die Diversitätsdimension Behinderung setzen sich verschiedene Zusammenschlüsse ein , die das Thema teils aus eigener Initiative, projektfinanziert oder auf ehrenamtlicher Basis bundesweit bearbeiten:
- EUCREA Verband Kunst und Behinderung
(Hamburg) Verband für den deutschsprachigen
Raum seit 1989, vertritt mit rund 100 Mitglieds-
einrichtungen die Interessen von Künstler*innen
mit Beeinträchtigung u.a. mit dem Strukturpro-
gramm ARTplus (2015-2017), Diskussions-
plattform zur künstlerischen Arbeit, Tagungen
und Foren, Kunstprojekte, Wettbewerbe
- Akademie für Kulturelle Bildung des Bundes
und des Landes NRW (Remscheid)
Trägerschaft von „Netzwerk Kultur und Inklu-
sion“, einem bundesweiten, durch die Beauf-
tragte für Kultur und Medien einberufenen
Dialog- und Fachforum für alle Akteure,
jährliche Netzwerktreffen und Publikationen.
- kubia – Kompetenzzentrums für Kulturelle Bildung im
Alter und Inklusion (Remscheid) am Institut für Bildung und Kultur e.V.
Vom Land NRW gefördertes Fachforum und
Serviceplattform, Fortbildungen, Projekte und
Tagungen
- Fachgruppe Barrierefreie Museen und
Inklusion im BV Museumspädagogik
Austausch, Kooperation und Veröffentlichungen
Darüber hinaus lassen sich einzelne Initiativen finden, die insbesondere auf regionaler Ebene eine Verbesserung der Situation für Künstler*innen mit Beeinträchtigung anstreben, z.B.:
- Servicestelle Inklusion im Kulturbereich in
Dresden/Trägerschaft Landesverband
Soziokultur Sachsen e.V.
- Berlinklusion Netzwerk für Zugänglichkeit in
Kunst und Kultur Netzwerk von Künstler*innen in
Berlin, das Inklusion in Form von Wissens-
austausch, Beratung und Kollaboration und
Bewusstseinsschaffung vorantreiben möchte
- Inklusion & Kultur e.V. (Köln) Einberufung
eines „Runden Tisches“ seit 2016, der Kulturin-
stitutionen und Menschen mit Beeinträchtigung in
Köln zusammenbringt und auf dieser Grundlage
diversitätsfördernde Konzepte erarbeitet
In den letzten Jahren wurden vermehrt Studien- und Forschungsprojekte zur Diversitätsdimension „Behinderung“ durchgeführt bzw. Veröffentlichungen erstellt, wie z.B.
- Studie Inklusive Kulturelle Bildung und Kultur-
arbeit (Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen
Gesellschaft 2014)
- Forschungsprojekt Un-Label (Köln) für inklusive
und innovative Möglichkeiten in den darstellenden
Künsten
- Forschungsprojekt DisAbility on Stage an der
Zürcher Hochschule der Künste 2013-2017
- Förderprojekt Pilot Inklusion Kooperationsprojekt
verschiedener deutscher Museen zur Entwicklung
modularer Vermittlungskonzepte als Beitrag zur
inklusiven Bildung 2015 - 2017
- „Inklusive Kulturpolitik – Menschen mit Behin-
derung in Kunst und Kultur“ Publikation von
- J. Koch 2017
Auch gehen diversitätsorientierte Initiativen von einzelnen Kulturämtern aus, wie z.B. vom „Referat für inklusive Kulturprojekte“ der Behörde für Kultur und Medien in Hamburg, dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München oder dem Kulturamt des Bezirks Oberbayern.
Impulse zu strukturellen Veränderungen zugunsten von Künstler*innen mit Beeinträchtigung sind in den letzten zwei Jahrzehnten insbesondere aus der Behindertenhilfe erfolgt: Als wichtiger Meilenstein ist die Einrichtung von dauerhaften Künstlerarbeitsplätzen innerhalb der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfbM) zu nennen. Die einseitige Eingliederung von Künstler*innen mit Beeinträchtigung in das System der Behindertenhilfe hat allerdings zu der Entwicklung eines parallelen Kunst- und Kulturbetriebes beigetragen, der sich bis heute nur punktuell mit dem Regelbetrieb überschneidet.
Künstler*innen mit Beeinträchtigungen, die selbstständig tätig sind, sind nach wie vor Einzelfälle. Außerhalb des Systems „Behindertenhilfe“ finden sie wenig finanzielle, organisatorische oder institutionelle Möglichkeiten zur Ausübung ihrer künstlerischen Praxis vor.
Exklusion durch spezifische Förderung?
Eingewandt werden kann, warum es spezifische Förderungen überhaupt brauche, wenn das Konzept der Diversität alle Individuen und Gruppen gleichermaßen meine. Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass dies aufgrund von struktureller Diskriminierung notwendig ist: So kann unterschieden werden zwischen einer allgemeinen Diversität und aufgrund beobachtbarer Ausschlüsse aktiv zu fördernder Zielgruppen: „Zwar sind alle Menschen in vielerlei Hinsicht divers, allerdings sind nicht alle Facetten menschlicher Vielfalt gleichermaßen von Ausschlüssen betroffen. Daher gilt es spezifische Zielgruppen zu identifizieren, die strukturell diskriminiert werden und deshalb spezifisch angesprochen und prioritär gefördert werden sollten. Nur die präzise Definition von Zielgruppen – auch in Förderrichtlinien – kann sicherstellen, dass Förderinstrumente hinsichtlich der angestrebten Repräsentation eine Wirkung erzielen.“ (Aikins/Gyamerah „Handlungsoptionen zur Diversifizierung des Berliner Kultursektors“ 2016:26).
Es ist gewissermaßen ein Dilemma, dass also Gruppen, für die positive Maßnahmen zur Chancengleichheit aufgrund struktureller Diskriminierung nötig sind, mit dieser Diversitäts-Kennzeichnung wiederum besonders kenntlich gemacht werden. Dies kann als Dilemma der „inkludierenden Exklusion“ (Stoffers 2015) bezeichnet werden. Ein notwendiger Umgang damit könnte sein, sich dies bewusst zu machen und somit die verschiedenen Strategien zu vergegenwärtigen, die – je nach Kontext – unterschiedlich eingesetzt werden (vgl. die Strategien des Trilemmas nach Boger 2017).
Andere Beispiele zeigen aber auch, dass es möglich ist, struktureller Benachteiligung mit gezielten Maßnahmen entgegenzuwirken – wie z.B. durch das Programm ARTplus von EUCREA. Hier wird in Kooperation mit Kulturinstitutionen und Künstlern mit Beeinträchtigung individuell analysiert, wie eine zukünftige Kooperation möglich sein kann.
Maßnahmen zur interkulturellen Öffnung des Kunst- und Kulturbetriebes sind teilweise auf die Gruppe der Künstler*innen mit Beeinträchtigung übertragbar. Zu beachten ist allerdings, dass die maßgeblich in den Nachkriegsjahren entwickelte Behindertenhilfe ein eigenes System für Bildung, Arbeit, Finanzierung und sozialem Umfeld für diesen Personenkreis etabliert hat. Bei der Planung diversitätsorientierter Maßnahmen für Künstler*innen mit Beeinträchtigung dürfen diese Strukturen nicht unberücksichtigt bleiben. Einerseits existieren hier bereits viel Know-how und Ressourcen in der künstlerischen Arbeit von Menschen mit Beeinträchtigungen. Andererseits müssen die formalen Bedingungen für unterstützte Ausbildung und Arbeit dahingehend flexibilisiert und modifiziert werden, damit sie Zugang zum Kunst- und Kulturbetrieb ermöglichen statt diesen zu behindern.
Im Folgenden wird dargestellt, auf welche Handlungsfelder sich Maßnahmen für eine Diversifizierung des Kunst- und Kulturbetriebs zugunsten von Künstler*innen mit Beeinträchtigung erstrecken sollten (S. 13).
Möglichkeiten der Übertragbarkeit des „Creative Case for Diversity“ des Arts Council England
Die Fördersäulen im „Creative Case for Diversity“ sind für die Bereiche Personal, Programm und Publikum konzipiert, um mit positiven Maßnahmen strukturelle Veränderungen zu erreichen. So gibt es beispielsweise einen Fonds, der die Diversität auf der Leitungsebene gezielt fördert (Change Makers), einen Fonds für bislang nicht öffentlich geförderte Institutionen, deren Führungspersonal zu mehr als 50% aus unterrepräsentierten Gruppen besteht (Elevate). Ziel ist hier, dass diese Institutionen verbesserte Chancen bei Anträgen auf allgemeine Fördermittel erhalten. Ein weiterer Fonds unterstützt gezielt Künstler*innen mit Beeinträchtigung (Unlimited III) in der Entwicklung ihrer künstlerischen Qualität und verbessert den Zugang zu Auftritts- und Ausstellungsmöglichkeiten.
Interessant für Deutschland ist das Grundkonzept des „Creative Case“, das einer bundesweiten Konzeption entsprechen würde. Daraus könnten ebenfalls gezielte Fördersäulen entwickelt werden.
Ein wesentlicher Bestandteil des „Creative Case for Diversity“ ist die empirische Begleitforschung (z.B. jährlicher Data Report), um zu verstehen, wo Barrieren liegen, wie diese überwunden werden können, und wie sich Verbesserungen für unterrepräsentierte Zielgruppen entwickeln lassen. Ein Monitoring überprüft die Fortschritte der geförderten Institutionen.
Die empirische Forschung und das Monitoring zu intensivieren bzw. zu etablieren, ist als sehr förderlich einzustufen, um den aktuellen Status quo in Deutschland zu ermitteln und Bedarfe feststellen zu können.
Für eine Übertragung des „Creative Case“ auf Deutschland sprechen sich auch die Autoren Aikins/Gyamerah in ihren „Handlungsoptionen zur Diversifizierung des Berliner Kultursektors“ aus und schlussfolgern, dass neben den Handlungsfeldern „Personal“, „Programm“ und „Publikum“ auch das Thema „Zugang“ eigenständig mitgedacht werden sollte (2016:14). Konkret bedeutet dies z.B. für Kulturverwaltungen, den Zugang für spezifische Zielgruppen zu Förderinstrumenten sicherzustellen oder den Zugang in das professionelle Kulturgeschäft, z.B. durch bezahlte Praktika, zu erleichtern.
Diese Forderungen sind für den hier vorgestellten Kontext sehr anschlussfähig und können
übertragen werden.
Handlungsfelder zur Diversifizierung des Kunst- und Kulturbetriebes
zugunsten von Künstler*innen mit Beeinträchtigung
Kulturelle schulische und außerschulische Bildung
- Verstärkte Heranführung
von Kindern und Jugendli-
chen an künstlerische
Formen und Inhalte in der
Schule
- Intensive Kooperationen
zwischen Schulen und
Kultureinrichtungen
- Berufsvorbereitende
Information und Angebote
(Praktikum), Bewerbungs-
hilfe
Akademische und nichtakademische berufliche Ausbildung und
Qualifizierung
- Ausbildungsinstitutionen:
Verbesserung von Infor-
mation und Ansprechbar-
keit, Flexibilisierung von
Zulassung, Lehrinhalten,
Vermittlungsmethoden
und Leistungsnachweisen
- Arbeitsagenturen:
Verbesserte Ermöglichung
von Assistenzleistungen,
Übernahme von Studien-
gebühren
- Behindertenhilfe:
Ermöglichung von berufs-
bezogener Qualifizierung
in Kooperation mit
externen Kulturpartnern
Weiterentwicklung beruflicher Tätigkeitsfelder für Künstler*innen mit
Beeinträchtigungen
- Verbesserung der Teil-
habe am Kunstmarkt u.a.
durch Gewährung von
Nachteilsausgleichen,
flexible Zuverdienstmög-
lichkeiten. Ermöglichung
der Teilnahme an
beruflicher Weiterbildung
- Nutzung sozialpolitischer
Instrumentarien zur Ver-
wirklichung von Teilhabe
am künstlerischen Arbeits-
markt
- Einrichtung von berufli-
cher Teilhabe in der Kul-
turvermittlung
Barrierefreiheit von
Kulturangeboten und
Kulturinstitutionen
- Einrichtung von Angebo-
ten für Menschen
mit unterschiedlichen
Beeinträchtigungen in den
Kulturhäusern
- Abbau baulicher Barrieren
vor und hinter den Kulis-
sen für Menschen mit
körperlichen, geistigen
Behinderungen oder
Sinnesbehinderungen
- Einsatz von Gebärdendol-
metschern, Audiodes-
kription in Theatern
- Abbau informeller Barrie-
ren für Menschen mit
unterschiedlichen
Beeinträchtigungen
Öffentlichkeitsarbeit zur Beeinflussung der
Wahrnehmung von
Künstler*innen mit
Behinderung
- Sichtbarmachung von
Menschen mit
Beeinträchtigungen in der
Öffentlichkeit
- Sichtbarmachung im
Kunst- und Kulturbetrieb
sowie in der Kulturvermitt-
lung
- Entwicklung einer inkludie-
renden Berichterstattung
ohne „Mitleidsbonus“
- Information der Kunst- und
Kultureinrichtungen zum
künstlerischen Schaffen
von Menschen mit Beein-
trächtigung
Kulturämter
- Verpflichtung von öffent-
lich geförderten Kulturein-
richtungen und Kultur-
vorhaben zur Um-
setzung des Inklusions-
auftrages in Bezug auf
Programm, Personal und
Publikum
- Förderung von Projek-
ten/Produktionen von
Künstler*innen mit
Beeinträchtigung nicht
nur aus „Sondertöpfen“,
sondern als Querschnitts-
aufgabe
- Institutionelle Förderung
von inklusiven
Künstler*innenverbänden
aus der Kulturförderung
(nicht nur aus der Be-
hindertenhilfe)
Zusammenfassung
Die in diesem Papier aufgezählten Initiativen arbeiten überwiegend auf der Basis von Projektfinanzierungen und sind schon allein aus finanziellen Gründen meist temporärer Art. Um Teilhabe und Chancengleichheit von Künstler*innen mit Beeinträchtigung in Deutschland erreichen zu können, bedarf es allerdings einer Vielzahl von Initiativen und Maßnahmen, um grundlegende Veränderungen in den zuvor aufgeführten Handlungsbereichen erreichen zu können. Dies bedeutet auch, dass die bestehenden Initiativen finanziell abgesichert werden müssen und durch strategisch eingesetzte Förderprogrammen auf die einzelnen Handlungsebenen eingewirkt werden sollte.
Flankierend wäre die Einrichtung einer bundesweiten Servicestelle für Diversität im Kunst- und Kulturbetrieb sinnvoll, in der durch gebündeltes Expert*innen-Wissen gemeinsam und intersektional die Öffnung des Kunst- und Kulturbetriebes angestoßen wird. Die Servicestelle übernimmt die zielgerichtete Beratung, Information und Steuerung zwischen den beteiligten Akteuren – Zielgruppen – Kulturinstitutionen – Politik – Verwaltung.
Darüber hinaus sollten Kulturämter und -behörden zur Umsetzung des Inklusionsauftrages in Bezug auf Programm, Personal, Publikum und Zugang stärker verpflichtet werden (z.B. durch Förderung von Projekten/Produktionen/Stipendien zugunsten von Künstler*innen mit Beeinträchtigungen als Querschnittsaufgabe in allen Fachbereichen, Nachweise von Handlungsplanung und Zielgruppenerreichung in der institutionellen Förderung).
Um künstlerisch talentierte junge Menschen zu erreichen und zu fördern, sollten bereits in der schulischen und außerschulischen Bildung Angebote und Informationen verbessert werden, z.B. durch verstärkte Heranführung von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigung an künstlerische Lehrinhalte, Information für Lehrer*innen über Talentförderung, Hilfe bei der Berufsorientierung, Möglichkeiten von Praktika in Kulturinstitutionen oder durch Unterstützung bei der Bewerbung an berufsbildenden Kunstschulen.
In der akademischen und nicht-akademischen Bildung für Künstler*innen mit Beeinträchtigungen geht es vor allem um eine Flexibilisierung von Lehrinhalten, Vermittlungsformen und Leistungsnachweisen sowie um Barrierefreiheit. Die Arbeitsagenturen sollten studienbegleitende Assistenzen als Nachteilsausgleich anbieten. Bildung und Qualifizierung innerhalb der Behindertenhilfe sollten zunehmend in Kooperation mit externen Bildungseinrichtungen stattfinden, um einen Transfer in die berufliche Wirklichkeit zu gewährleisten.
Bei der Weiterentwicklung der beruflichen Tätigkeitsfelder steht die Öffnung neuer Berufsfelder für Künstler*innen mit Beeinträchtigungen im Mittelpunkt, z.B. als Kulturvermittler*innen. Dazu müssen mögliche Instrumente, wie z.B. ausgelagerte Arbeitsplätze (WfbM) oder das Budget für Arbeit stärker bekannt und für kulturelle Institutionen anwendbar gemacht werden.
Die Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung gegenüber Künstler*innen mit Beeinträchtigungen ist ein weiterer Schwerpunkt. Die Forderung nach einer Abbildung von Diversität bezieht sich auf alle öffentlichen Kommunikationsbereiche: Von der Präsenz in Film, Fernsehen, Medien, Literatur bis hin zu Ausbildung, Beruf und Freizeit. Die Produktionen von Künstler*innen mit Beeinträchtigungen sollten in der öffentlichen Berichterstattung nicht gesondert gewertet oder die Kritik an ihren Werken mit einem „Mitleidsbonus“ oder „Ableism“ auf- oder abgemildert werden.
LITERATUR
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ARTplus. Erfahrungsbericht und Handlungsempfehlungen zum Strukturprogramm Kunst und Inklusion 2015-2016. Hamburg
http://www.eucrea.de/index.php/artplus-aktuell/artplus-ablauf
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Keuchel, Susanne/Zentrum für Kulturforschung (Hg.) (2012)
Das 1. InterKulturBarometer. Migration als Einflussfaktor auf Kunst und Kultur. Köln.
Koch, Jakob Johannes (2017)
Inklusive Kulturpolitik – Menschen mit Behinderung in Kunst und Kultur. Kevelaer.
Komische Oper Berlin (2014)
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Kulturpolitische Gesellschaft e.V. (2004)
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Müller-Giannetti, Angela / Diehl, Lis Marie (2018)
Diversität im Kunst- und Kulturbetrieb: KünstlerInnen mit Behinderungen sichtbar machen.
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https://www.kubi-online.de/artikel/diversitaet-kunst-kulturbetrieb-kuenstlerinnen-behinderungen-sichtbar-machen
Prognos AG (2016)
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Terkessidis, Mark (2010)
Interkultur. Berlin.
Welz, Gisela (1996)
Inszenierungen kultureller Vielfalt. Berlin.
EUCREA
EUCREA hat als Dachverband zur Vertretung der Interessen von Künstler*innen mit Beeinträchtigung im deutschsprachigen Raum eine
langjährig entwickelte Expertise und ist Akteur zwischen Theorie und Praxis. Der Verband ist mit seinen regelmäßig stattfindenden Fachtagungen,
Veröffentlichungen und Entwicklungen von Modellprojekten die zentrale
Diskussions- und Kommunikationsplattform zum Thema.
Herausgeber:
EUCREA Verband Kunst und Behinderung e.V.
mit Unterstützung der Universität Leipzig
(Prof. Dr. Saskia Schuppener,
Erziehungswissenschaftliche Fakultät/Institut für Förderpädagogik)
Mai 2018
Redaktion: Nina Stoffers / Jutta Schubert / Angela Müller-Giannetti
Layout: Angela Müller-Giannetti
www.eucrea.de
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„Who’s voice is in the room, who’s missing?“ (Abid Hussain, Arts Council England)
Deutschland verfügt über eine vielfältige Kunst- und Kulturlandschaft. Kreative mit Beeinträchtigung sind ein Teil hiervon. Jedoch bildet der etablierte Kunst- und Kulturbetrieb diese Diversität nicht ausreichend ab. Zwar gibt es insbesondere in den Metropolen Institutionen, Vereine und Initiativen, in denen Kreative mit Beeinträchtigungen tätig sind, jedoch sind diese Angebote überwiegend unter dem Dach oder in Kooperation mit einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) organisiert. Nicht zuletzt dieser Kontinuität ist es zu verdanken, dass viele Projekte und einzelne ihnen angeschlossene Künstler*innen weit über Deutschland hinaus bekannt geworden sind. Künstler*innen, die sich außerhalb der Behindertenhilfe beruflich orientieren wollen, sind meist auf ihr soziales Umfeld angewiesen. Angepasste Ausbildungsangebote, Assistenzleistungen oder Arbeitsmöglichkeiten sind eher die Seltenheit als die Regel.
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Künstler*innen mit Beeinträchtigungen: Von der Einschränkung zur Erweiterung
Ausschlüsse auf verschiedenen Ebenen sind dafür verantwortlich, das Kreative mit Beeinträchtigung in privaten und öffentlichen Kultureinrichtungen bislang kaum oder gar nicht zu finden sind – weder im künstlerischen Betrieb noch in der Rolle der Kulturvermittelnden. Für diese Gruppe mangelt es insbesondere an Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten, an baulicher und auf Information bezogener Barrierefreiheit sowie am Zugang zu strukturellen Hilfeleistungen. Auf Seiten der Kulturinstitutionen fehlt es insbesondere an Information und Erfahrung.
Dies hat zur Folge, dass die Öffentlichkeit Künstler*innen mit Beeinträchtigungen weiterhin als Ausnahme empfindet – und ihre künstlerischen Produktionen dem „Exotischen“ zugeordnet werden.
Aktuell separiert das Fördersystem, sodass Kreative mit Behinderungen nur selten Förderungen des Kultursektors in Anspruch nehmen können. Dadurch wird verhindert, dass diese Künstler*innen von kleinen Bühnen auf die großen Mainstream Bühnen gelangen. Und damit wiederum verpasst der Kultursektor eine bereichernde, hinterfragende, mitunter auch neue Perspektive auf sich selbst. Das Ziel sollte sein, dass für Künstler*innen mit Behinderungen sowohl spezifische als auch allgemeine Förderungen und Orte nebeneinander existieren.
Künstler*innen mit Beeinträchtigungen sollen im etablierten Kulturbetrieb ihren Platz haben – nicht nur, weil sie einen großen Bestandteil der Bevölkerung darstellen, sondern auch, weil sie die künstlerische Vielfalt in Deutschland stärken.
Die Vision einer diversitätsbasierten Kulturlandschaft betrifft nicht allein neue Akteure auf den Bühnen, in Personalstrukturen und innerhalb neuer Publikumsgruppen, sondern auch in Bezug auf künstlerische Inhalte und Formen sowie den Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Um die kulturelle Teilhabe von Künstler*innen mit Beeinträchtigung nachhaltig verbessern zu können, bedarf es neuer, sich öffnender Strukturen – sowohl im Kunst- und Kulturbetrieb wie auch in der Behindertenhilfe.
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Arts Council England and the Creative Case for Diversity
Ein Blick auf Großbritannien zeigt, wie der Arts Council England mit dem Creative Case for Diversity schon länger eine kulturpolitische Strategie zur Diversifizierung von Kultureinrichtungen verfolgt und erprobt. Es handelt sich um ein 10-jähriges Strukturprogramm, das die Förderung spezifischer Gruppen zum Ziel hat, die bislang im Kultursektor unterrepräsentiert sind. Vorhergehende Förderungen wurden insbesondere mit der moralischen oder gesetzlichen Verpflichtung, allen Menschen eine kulturelle Teilhabe zu ermöglichen, begründet. Der Creative Case thematisiert darüber hinaus die ästhetische oder auch künstlerisch-kreative Dimension, die Diversität im Kunst- und Kulturbetrieb mit sich bringt. Dem Zugrunde liegt das Verständnis, dass Talente unabhängig von Alter, Geschlecht, Behinderungen oder kulturellem Hintergrund sind und Menschen erst durch die Gesellschaft behindert werden.
Das Konzept des Arts Council England sieht grundsätzlich vor, dass Mittelvergabe und Förderentscheidungen an den Nachweis gebunden werden, wie unterrepräsentierte Zielgruppen vermehrt Zugang zu den geplanten Angeboten finden. Dies gilt insbesondere für große, öffentlich finanzierte Kulturinstitutionen.
In einer zuletzt veröffentlichten Evaluation des Arts Council England wird als Ziel genannt: „[…] diversity should not be an add-on, but become integral to organisational thinking and creative planning.“ (Arts Council England 2018:50).
Der vorliegende Programmentwurf hat zum Ziel, das Prinzip der Diversität für Künstler*innen mit Beeinträchtigung im Kunst- und Kulturbetrieb einzufordern. Für den deutschen Kontext können einige der bereits in Großbritannien erprobten Strategien zum kulturpolitisch fundierten Strukturwandel übernommen werden (s. S. 12).
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Diversität im Kunst- und Kulturbetrieb: Die aktuelle Diskussion
Unter dem Begriff „Diversität“ wird im deutschen Kulturbetrieb aktuell vor allem die inter- und transkulturelle Gesellschaft gefasst, wie die folgende kurze Bestandsaufnahme zeigt. Die Diversitätsdimension Beeinträchtigung wird in der Zielgruppenansprache, bei Förderungen oder auch in der Kulturellen Bildung hingegen selten berücksichtigt.
Bislang arbeiten Institutionen, Verbände etc. als Expert*innen für jeweils eine gesellschaftliche Gruppe, um diese zu vertreten. Interessanterweise konnte die Recherche für dieses Positionspapier feststellen, dass es einige sehr wenige Versuche gibt, im Kulturbereich verschiedene Diversitätsdimensionen gleichermaßen zu berücksichtigen (dazu zählt das ZAK Bochum und das Diversity.Arts.Culture. Projektbüro Diversitätsentwicklung, Berlin). Im Grunde fehlt es jedoch bislang an einem Zusammenschluss der ausgewiesenen Expert*innen in einer bundesweiten „Servicestelle“ für den Bereich Kultur, durch die gemeinsam und intersektional Veränderungen im Kunst- und Kulturbetrieb gebündelt und angestoßen werden können. Eine solche Servicestelle ist in Großbritannien mit dem Creative Case for Diversity eingerichtet worden.
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Interkulturelle Öffnung
Gesellschaftliche Hintergründe, die dazu geführt haben, dass die Notwendigkeit der interkulturellen Öffnung von Kulturinstitutionen auch von politischen Entscheidungsträgern und Förderergremien erkannt wurde, ist sehr vielen Akteur*innen zu verdanken. Vor allem zahlreiche Künstler*innen aus allen Sparten konnten sich zunehmend Gehör und ein Publikum verschaffen. Wissenschaftliche und kulturpolitische Forschungen und Studien zeigten auf, dass im Kultursektor bestimmte Gruppen nicht repräsentiert und stark exkludiert waren. Der Bericht der vom Bundestag eingesetzten Enquête-Kommission zur „Kultur in Deutschland“ (2007) förderte einen Bedeutungszuwachs der Kulturellen Bildung (Kapitel 6) und erwähnte darin als eigenständiges Unterkapitel explizit auch die Interkulturelle Bildung (Kapitel 6.4) sowie als Förderbereich von besonderer Bedeutung die Migrantenkulturen/Interkultur (Kapitel 3.5.5). Zum Vergleich: Bezogen auf das Themenspektrum Kultur und Menschen mit Beeinträchtigung findet sich nur eine Erwähnung, aber kein eigenständiges Kapitel.
Eine weitere Entwicklung der letzten Jahre bzw. Jahrzehnte die maßgeblich ist für eine gestiegene Aufmerksamkeit und den politischen Willen zur Veränderung im Kulturbereich, ist die im Nachgang der PISA-Studie gesamtgesellschaftlich geführte Debatte zum Bildungssystem. Als mögliche Lösung für drängende Bildungsfragen stiegen die Förderungen der (außerschulischen) Kulturellen Bildung kontinuierlich und fanden ihren größten Niederschlag im bundesweiten Förderprogramm „Kultur macht stark“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. In der Evaluation für den Zeitraum 2014-2015 wird angegeben, dass unter den angestrebten Zielgruppen Kinder und Jugendliche mit einer körperlichen und/oder geistigen Behinderung die am wenigsten angestrebte Zielgruppe ist (31,5 %), von denen immerhin 22,5 % erreicht wurden. Kulturelle Bildung wird – nach wie vor – als Mittel zur Teilhabe und gegen Benachteiligungen empfohlen.
Auch die (späte) Anerkennung, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist (2005), brachte eine erneute und verstärkte Beschäftigung mit Themen der inter- und transkulturellen Gesellschaft. In jüngster Zeit trugen die gestiegene Zahl von Geflüchteten infolge des anhaltenden Syrienkrieges, die Debatten um Willkommenskultur, rechtspopulistische Bewegungen und eine zunehmende Anzahl rassistische Gewalttaten auch und gerade im Kunst- und Kulturbetrieb dazu bei, sich mit Fragen der kulturellen Vielfalt zu beschäftigen.
Für die Diversitätsdimension ethnische und kulturelle Herkunft – und damit im Sinne einer interkulturellen Öffnung – sind aktuell beispielsweise folgende kulturpolitisch agierende Akteur*innen und Programme im deutschsprachigen Raum zu nennen:
- Zukunftsakademie NRW (Bochum): Plattform für Entwicklung, Durchführung und Begleitung von diversitätsorientierten Projekten und Prozessen im Kulturbereich. Die Zukunftsakademie veranstaltet Fachtreffen, bietet Fortbildungsreihen an und realisiert modellhaft Praxisprojekte. Behinderung wird als Teil von Diversität beschrieben.
- Kulturstiftung des Bundes, Programm 360°, Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft: Das Programm fördert die diversitätsorientierte und exemplarische Öffnung von Kulturinstitutionen in den Bereichen Programmangebot, Publikum und Personal.
- Diversity.Arts.Culture. Berliner Projektbüro für Diversitätsentwicklung: Das Projektbüro berät, vermittelt Expertise, stellt Erfahrungswissen zur Verfügung und entwickelt Formate für Kultureinrichtungen, für die Kulturverwaltung und für von Ausschlüssen betroffene Akteur*innen. In Kooperations-Veranstaltung wird zunehmend auch die Diversitätsdimension Behinderung berücksichtigt.
- Werkstatt für internationale Kultur und Politik (Hamburg): Projekt in:szene für vielfaltssensible Qualitätsentwicklung und Öffnungsprozesse. Beratung von Kulturbetrieben und Kulturschaffenden, Qualifizierungs- und Weiterbildungsprogramm, Vernetzung.
- Kompetenzverbund Kulturelle Integration und Wissenstransfer (KIWit): Verschiedene Partner bieten Workshops, Fortbildungen und künstlerische Labore sowie eine Online-Plattform für Kulturschaffende und Institutionen.
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Strukturverändernde Programme zugunsten von Künstler*innen mit Beeinträchtigung
Für die Diversitätsdimension Behinderungen lassen sich weniger Institutionen und strukturverändernde Programme nennen, als vielmehr Netzwerke und Interessenszusammenschlüsse, beispielsweise:
- EUCREA, Dachverband Kunst und Behinderung (Hamburg): Verband für den deutschsprachigen Raum, vertritt die Interessen von Künstler*innen mit Beeinträchtigung u.a. mit dem Strukturprogramm ARTplus (2015-2017), Diskussionsplattform zur künstlerischen Arbeit, Tagungen und Foren, Kunstprojekte, Wettbewerben
- Akademie für Kulturelle Bildung des Bundes und des Landes NRW (Remscheid): Trägerschaft von
o Netzwerk Kultur und Inklusion: Dialog- und Fachforum, jährliche Netzwerktreffen und Publikationen
o Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und Inklusion: Fachforum und Serviceplattform, Fortbildungen, Projekte und Tagungen
- Servicestelle Inklusion im Kulturbereich in Dresden/Trägerschaft Landesverband Soziokultur Sachsen e.V.
In den letzten Jahren gab es vermehrt einzelne Studien und Forschungsprojekte, wie z.B. Inklusive Kulturelle Bildung und Kulturarbeit (Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft 2014), das Projekt Un-Label, Sommertheater Pusteblume (2017), DisAbility on Stage (Zürcher Hochschule der Künste 2013-2017), Inklu:City, Pilot Inklusion (Kunst- und Ausstellungshalle der BRD 2015-2017). Auch Tagungen mit Forschungs- und Projektpräsentationen finden zunehmend statt, z.B. die jährlichen Foren von EUCREA oder die Tagungen des Netzwerkes Kultur und Inklusion der Beauftragten für Kultur und Medien an der Akademie Remscheid. 2017 ist die Publikation „Inklusive Kulturpolitik – Menschen mit Behinderung in Kunst und Kultur“ von Jakob Johannes Koch erschienen. Aus unterschiedlichen Perspektiven wird hier hinterfragt, welches Bewusstsein und welche Maßnahmen die aktuelle Kulturpolitik entwickelt, um den Anforderungen einer inklusiven Gesellschaft nachzukommen.
Impulse zu strukturellen Veränderungen zugunsten von Künstler*innen mit Beeinträchtigung sind in den letzten zwei Jahrzehnten insbesondere aus der Behindertenhilfe erfolgt: Zu nennen ist die Einrichtung von dauerhaften Künstlerarbeitsplätzen innerhalb der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfbM). Die einseitige Eingliederung von Künstlern mit Beeinträchtigung in das System der Behindertenhilfe hat allerdings zu der Entwicklung eines parallelen Kunst- und Kulturbetriebes beigetragen, der sich bis heute nur punktuell mit dem Regelbetrieb überschneidet. Künstler mit Beeinträchtigungen, die sich außerhalb dieses Systems bewegen wollen, finden keine finanziellen, organisatorischen oder institutionellen Möglichkeiten zur Ausübung ihrer künstlerischen Praxis vor.
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Exklusion durch spezifische Förderung?
Eingewandt werden kann, warum es spezifische Förderungen überhaupt brauche, wenn das Konzept der Diversität alle Individuen und Gruppen gleichermaßen meine. Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass dies aufgrund von struktureller Diskriminierung notwendig wird: So kann unterschieden werden zwischen einer allgemeinen Diversität und aufgrund beobachtbarer Ausschlüsse aktiv zu fördernder Zielgruppen: „Zwar sind alle Menschen in vielerlei Hinsicht divers, allerdings sind nicht alle Facetten menschlicher Vielfalt gleichermaßen von Ausschlüssen betroffen. Daher gilt es spezifische Zielgruppen zu identifizieren, die strukturell diskriminiert werden und deshalb spezifisch angesprochen und prioritär gefördert werden sollten. Nur die präzise Definition von Zielgruppen – auch in Förderrichtlinien – kann sicherstellen, dass Förderinstrumente hinsichtlich der angestrebten Repräsentation eine Wirkung erzielen.“(Aikins/Gyamerah 2016:26)
Es ist gewissermaßen ein Dilemma, dass also Gruppen, für die positive Maßnahmen zur Chancengleichheit aufgrund struktureller Diskriminierung nötig sind, mit dieser Diversitäts-Kennzeichnung wiederum besonders kenntlich gemacht werden. Dies kann als Dilemma der „inkludierenden Exklusion“ (Stoffers 2017) bezeichnet werden. Ein notwendiger Umgang damit könnte sein, sich dies bewusst zu machen und somit die verschiedenen Strategien zu vergegenwärtigen, die – je nach Kontext – unterschiedlich eingesetzt werden (vgl. die Strategien des Trilemmas nach Boger 2017).
Andere Beispiele zeigen aber auch, dass es möglich ist, struktureller Benachteiligung mit gezielten Maßnahmen entgegenzuwirken – wenn zuvor erfasst wurde, wie sich Diskriminierung konkret äußert (vgl. ARTplus Handlungsempfehlungen 2017 von EUCREA).
Maßnahmen zur interkulturellen Öffnung des Kunst- und Kulturbetriebs sind teilweise auf die Gruppe der Künstler*innen mit Beeinträchtigung übertragbar. Zu beachten ist allerdings, das die maßgeblich in den Nachkriegsjahren entwickelte Behindertenhilfe ein eigenes System für Bildung, Arbeit, Finanzierung und sozialem Umfeld für diesen Personenkreis etabliert hat. Bei der Planung diversitätsorientierter Maßnahmen für Künstler*innen mit Behinderung dürfen diese Strukturen nicht unberücksichtigt bleiben. Einerseits existieren hier bereits viel Know-How und Ressourcen in der künstlerischen Arbeit von Menschen mit Behinderungen. Andererseits müssen die formalen Bedingungen für unterstützte Ausbildung und Arbeit dahingehend flexibilisiert und modifiziert werden, das sie Zugang zum Kunst- und Kulturbetrieb ermöglichen, statt diesen zu behindern.
Im Folgenden wird dargestellt, auf welche Handlungsebenen sich Maßnahmen für eine Diversifizierung des Kunst- und Kulturbetriebs zugunsten von Künstler*innen mit Beeinträchtigung erstrecken sollten (siehe S. 13).
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Möglichkeiten der Übertragbarkeit des Creative Case for Diversity der Arts Council England
Die Fördersäulen im Creative Case for Diversity sind für die Bereiche Personal, Programm und Publikum konzipiert, um mit positiven Maßnahmen strukturelle Veränderungen zu erreichen. So gibt es beispielsweise einen Fonds, der die Diversität auf der Leitungsebene gezielt fördert (Change Makers), einen Fonds für bislang nicht öffentlich geförderte Institutionen, deren Führungspersonal zu mehr als 50% aus unterrepräsentierten Gruppen besteht (Elevate). Ziel ist hier, dass diese Institutionen verbesserte Chancen bei Anträgen auf allgemeine Fördermittel erhalten. Ein weiterer Fonds unterstützt gezielt Künstler*innen mit Beeinträchtigungen (Unlimited III) in der Entwicklung ihrer künstlerischen Qualität und verbessert den Zugang zu Auftritts- und Ausstellungsmöglichkeiten.
Interessant für Deutschland ist das Grundkonzept des Creative Case, das einer bundesweiten Konzeption entsprechen würde. Daraus könnten ebenfalls gezielte Fördersäulen entwickelt werden.
Ein wesentlicher Bestandteil des Creative Case for Diversity ist die empirische Begleitforschung (z.B. jährlicher Data Report), um zu verstehen, wo Barrieren liegen, wie diese überwunden werden können und wie sich Verbesserungen für unterrepräsentierte Zielgruppen entwickeln lassen. Ein Monitoring überprüft die Fortschritte der geförderten Institutionen.
Die empirische Forschung und das Monitoring zu intensivieren bzw. zu etablieren, ist als sehr förderlich einzustufen, um besser den aktuellen Status Quo in Deutschland zu ermitteln und Bedarfe feststellen zu können.
Für eine Übertragung des Creative Case auf Deutschland sprechen sich auch die Autoren Aikins/Gyamerah in ihren „Handlungsoptionen zur Diversifizierung des Berliner Kultursektors“ aus und schlussfolgern, dass neben den Handlungsfeldern „Personal“, „Programm“ und „Publikum“ auch das Thema „Zugang“ eigenständig mitgedacht werden sollte (2016:14). Konkret bedeutet dies z.B. für Kulturverwaltungen, den Zugang für spezifische Zielgruppen zu Förderinstrumenten sicherzustellen oder den Zugang in das professionelle Kulturgeschäft, z.B. durch bezahlte Praktika, zu erleichtern.
Diese Forderungen sind für den hier vorgestellten Kontext sehr anschlussfähig und können übertragen werden.
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Handlungsebenen zur Diversifizierung des Kunst- und Kulturbetriebs unter besonderer Berücksichtigung von Künstler*innen mit Beeinträchtigung
Organigramm
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Zusammenfassung
Die Einrichtung einer bundesweiten Servicestelle für Diversität im Kunst- und Kulturbetrieb, in der durch gebündeltes Expert*innen-Wissen gemeinsam und intersektional die Öffnung des Kunst- und Kulturbetriebes angestoßen werden soll, ist dringend notwendig.
Die Servicestelle übernimmt die zielgerichtete Beratung, Information und Steuerung zwischen den beteiligten Akteuren Zielgruppe – Kulturinstitutionen - Politik – Verwaltung wahr. EUCREA sollte in diesem Büro den Part für den Bereich „Kunst und Behinderung“ als Experte übernehmen.
Darüber hinaus sollten Kulturämter und -behörden zur Umsetzung des Inklusionsauftrages in Bezug auf Programm, Personal , Publikum und Zugang verpflichtet werden. (z.B. durch Förderung von Projekten/Produktionen/Stipendien von Künstler*innen mit Beeinträchtigungen als Querschnittsaufgabe in allen Fachbereichen, Nachweis von Handlungsplanung und Zielgruppenerreichung in der institutionellen Förderung).
Um künstlerisch talentierte junge Menschen zu erreichen und zu fördern, sollten bereits in der schulischen und außerschulischen Bildung Angebote und Informationen verbessert werden, z.B. durch verstärkte Heranführung von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen an künstlerische Lehrinhalte, Information für Lehrer*innen über Talentförderung, Hilfe bei der Berufsorientierung, Möglichkeiten von Praktika in Kulturinstitutionen, Unterstützung bei der Bewerbung berufsbildenden Kunstschulen).
In der akademischen und nicht-akademischen Bildung für Künstler mit Beeinträchtigungen geht es vor allem um eine Flexibilisierung von Lehrinhalten, Vermittlungsformen und Leistungsnachweisen sowie um Barrierefreiheit. Die Arbeitsagenturen sollten studienbegleitende Assistenzen als Nachteilsausgleich anbieten. Bildung und Qualifizierung innerhalb der Behindertenhilfe sollte zunehmend in Kooperation mit externen Bildungseinrichtungen stattfinden, um einen Transfer in die berufliche Wirklichkeit zu gewährleisten.
Bei der Weiterentwicklung der beruflichen Tätigkeitsfelder stehen die Öffnung neuer Berufsfelder für Künstler*innen mit Beeinträchtigungen im Mittelpunkt, z.B. als Kulturvermittler*innen. Dazu müssen mögliche Instrumente, wie z.B. ausgelagerte Arbeitsplätze (WfbM) oder das Budget für Arbeit stärker bekannt und für kulturelle Institutionen anwendbar gemacht werden.
Die Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung gegenüber Künstler*innen mit Beeinträchtigungen ist ein weiterer Schwerpunkt. Die Forderung nach einer Abbildung von Diversität bezieht sich auf alle öffentlichen Kommunikationsbereiche: Von der Präsenz in Film, Fernsehen, Medien, Literatur bis hin zu Ausbildung, Beruf und Freizeit. Die Produktionen von Künstler*innen mit Beeinträchtigungen sollten in der öffentlichen Berichterstattung nicht gesondert gewertet oder die Kritik an ihren Werken mit einem „Mitleidsbonus“ oder „Ableism“ auf- oder abgemildert werden
EUCREA hat als Dachverband zur Vertretung der Interessen von Künstler*innen mit Beeinträchtigungen im deutschsprachigen Raum eine langjährig entwickelte Expertise und ist Akteur zwischen Theorie und Praxis. Der Verband ist mit seinen regelmäßig stattfindenden Fachtagungen, Veröffentlichungen und Entwicklungen von Modellprojekten die zentrale Diskussions- und Kommunikationsplattform zum Thema.
Impressum
Herausgeber:
EUCREA Verband Kunst und Behinderung e.V.
Mai 2018
Redaktion:
Nina Stoffers
Jutta Schubert
Angela Müller-Giannetti
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