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    Foto: Tal Anderson

    Umdenken: Autismus in Serien und Filmen –
    Von Rain man zu
    Tal Anderson

    Beitrag von Amelie Rogge

    "Autismus ist wie Curry". So oder so ähnlich drückt es Jan-Frederik aus, Gründer der Firma AUIO.tv und selbst Autist. Sinngemäß soll der Vergleich bedeuten, dass zwar viele Menschen wissen, was Curry ist, aber den wenigsten ist bewusst, was genau drinsteckt in dieser Gewürzmischung und dass es unzählige Varianten davon gibt. Ein paar Zutaten sollten jedoch schon enthalten sein, damit es sich Curry nennen darf. Beim Autismus sei das ähnlich, sagt er. Zu den wichtigsten Merkmalen zählen aus seiner Sicht:

    • Besonderheiten in der Sprache und Kommunikation
    • Besonderheiten im Erleben und Denken von Strukturen
    • Besonderheiten in der Wahrnehmung von Reizen (Reizoffenheit)
    • Das Zusammenkommen von belastenden Erfahrungen
    • Besonderheiten in der Ausprägung von Talenten
    • Interesse an zwischenmenschlicher Interaktion

    Besonders der letzte Punkt lässt viele nicht-autistische Menschen, die auch sonst keine Berührungspunkte mit dem Thema haben, vielleicht staunen. Warum? Weil sie ihr Verständnis von Autismus oft aus Filmen und Serien haben, die ein eindimen-sionales Bild von Autismus vermittelten und auch Schauspieler:innen einsetzten, die selbst keinen Autismus hatten.

    Der ausgediente Klassiker auf diesem Gebiet ist wohl Rain Man, weil er das Klischee des „unfähigen Hochbegabten“ bedient: Eine Figur, die zwar in einem Wimpernschlag die richtige Anzahl an heruntergefallenen Zahnstochern weiss, aber dafür keinerlei Alltagskompetenzen besitzt. So lässt es der vielfach oscarprämierte Spielfilm stehen, obwohl nur ein sehr kleiner Teil aller Autist:innen zusätzlich Savants sind, das heißt, eine solche Inselbegabung haben. Dustin Hoffman, der hier den Savant spielte, mag begabt sein, aber eben nicht inselbegabt.

    Ja, Filme interessieren sich oft nur für das Außergewöhnliche, und außerdem ist der Film auch schon etwas älter (1988). Trotzdem schadet er vielen Menschen, die wirklich Autismus haben und eben keine Savants sind, auch heute noch mit diesem Klischee. Sowohl bei der Selbstwahrnehmung als auch der Fremdwahrnehmung. Nach dem Motto: „Du bist ja gar nicht wie Rain Man, also kannst du keinen Autismus haben!“ oder „Ich bin doch gar nicht wie Rain Man, also…“.

    Nebenbei bemerkt, die Figur im Film hieß selbstverständlich auch nicht Rain Man. Der Filmtitel ist aber mit der Zeit dennoch zum Synonym für einen autistischen Menschen geworden.

    Ist also heute alles besser mit der filmischen Darstellung von Autist:innen? Nun, nicht wirklich. 2014 fiel der Schauspieler Benedict Cumberbatch unangenehm durch sehr ableistische Aussagen auf, als er Fantheorien kommentierte, wonach seine Rollen des Sherlock Holmes oder Alan Turing Asperger-Autisten gewesen sein könnten. An dieser Stelle ist es immer ein Abwägen, ob man Cumberbatch zitiert und ggf. übersetzt und damit die problematischen Aussagen wiederholt oder nicht. Das Ziel dieses Artikels ist es jedoch zu zeigen, warum es wichtig ist, echte Menschen mit Behinderung am Set zu haben (manche Betroffene zählen Autismus dazu, manche nicht. Beides ist okay).

    Trigger-Warnung: Ableismus!

    "Benedict Cumberbatch hat genug davon, dass Leute seine Figuren autistisch nennen:

    ‚Ich glaube nicht, dass er [Alan Turing, A.R.] im Spektrum war. Ich denke, viele Leute sind damit [mit Diagnosen, A.R.] zu nachlässig. Ich denke, es ist sehr gefährlich, damit herumzuspielen‘, sagt er. ‚Menschen, die über mich sprechen, machen das häufiger und sagen, dass das gut für Menschen im Spektrum sei, was toll ist. Ich frage mich aber im Job nicht: Ist das Autismus, ist das Asperger, ist das eine andere Form der Lernschwierigkeit oder  -behinderung? Ich bin sehr skeptisch dem gegenüber, weil ich Leute mit diesen Krankheitsbildern getroffen habe. Für sie ist das ein ständiger Kampf. Dann tauchen diese Personen [Sherlock und Turing] in meiner Arbeit auf und sind irgendwie brillant und machen damit Betroffenen auf einigen Ebenen beinahe falsche Hoffnungen, für die Autismus tägliche Realität ist.‘“

    Originalzitat der entscheidenden Stelle: I’m very wary of that, because I’ve met people with those conditions. It’s a real struggle all the time. Then these people pop up in my work and they’re sort of brilliant, and they on some levels almost offer false hope for the people who are going through the reality of it.”

    Die Autismus-Aktivistin Maria Scharnke fragt sich dazu unter dem #actuallyautistic:

    Es ist also nachlässig, vorzuschlagen, dass Menschen Autist:innen sein könnten? Gefährlich? Es macht beinahe falsche Hoffnungen? „Irgendwie brillante“ Autist:innen wecken „falsche Hoffnungen“?

    Scharnke sammelt außerdem noch weitere Details zu anderen Zitaten von Cumber-batch zu diesem Thema, die ähnlich schwer zu ertragen sind, und sie tut dies noch 2020, was zeigt, dass für die Community keineswegs Gras über die Sache gewachsen ist. Ich möchte ergänzen: Auch wenn Cumberbatch sich die Fragen: „Ist das Autismus, ist das Asperger, ist das eine andere Form der Lernschwierigkeit oder -behinderung?“ nicht stellt: Die Fantheorien beweisen, dass Autist:innen dies sehr wohl tun, selbstver-ständlich auch an Film- und Seriensets, wenn sie denn dort anzutreffen sind.

    Es ist übrigens auch keine gute Lösung, einer sehr bekannten Serienfigur einfach keine Diagnose zu geben und sich auf der anderen Seite ständig über die ‚seltsamen Verhaltensweisen‘ der Figur lustig zu machen (z. B. dreimal Klopfen an der Tür, Nicht-Verstehen von Sarkasmus oder sehr, sehr routinierter Tagesablauf): Sheldon Cooper aus The Big Bang Theory ist hochbegabt und besitzt ebenfalls keine große Alltags-kompetenz, aber es wird selten deutlich, dass ihm seine Abhängigkeit von anderen Menschen, etwa beim Einkaufen, Kochen, Autofahren etc. zumindest gelegentlich etwas ausmacht. Das ist im realen Leben anders, sagt der YouTuber Luke, der selbst das Asperger-Syndrom hat. So bleibt auch die Figur des Sheldon über viele Staffeln hinweg eine eindimensionale Lachnummer. Ist das Beweis genug dafür, dass er eben kein Asperger-Autist ist? Der Fall Sherlock/Cumberbatch zeigt, dass es für die Betroffenen nicht gut ist, wenn Figuren einfach ‚undiagnostiziert‘ bleiben, nur weil Serienschöfer:innen oder Schauspieler:innen es vermeiden wollen.

     

    Atypical und Tal Anderson

    Einen nächsten, notwendigen Schritt ist die Netflix-Serie Atypical gegangen, allerdings erst ab Staffel 2: Mit einem Casting von immer mehr Autist:innen mit Schauspiel-erfahrung. Dazu gehörte auch Tal Anderson, eine Freundin der Schauspielerin Coco de Bruycker, mit der EUCREA vor kurzem ein Interview führte. Nicht nur Anderson zeigt, dass Autismus auch Frauen betreffen kann. Doch weil viele eben nur Rain Man, Sherlock oder Sheldon – also männliche Charaktere kennen – , geht diese Tatsache oft unter. Parallel zur Besetzung von Rollen mit „echten“ Autist:innen gewann auch der Hauptcharakter der Netflix-Serie immer mehr an Tiefe. Zufall? Ich denke nicht.

    Zusammengefasst kann gesagt werden, dass die Kulturbranche gut daran tut, diverser bezüglich Hautfarbe, Behinderung, Geschlecht usw. zu casten, um den Kanon insgesamt zu erweitern. Es geht also keineswegs darum, Rain Man, Sherlock oder Sheldon zu verbieten, sondern zu ergänzen.


    ***

    Quellen:

    Autismus ist wie Curry (Kurzvideo): https://youtu.be/Ryides_dHD4

    Cumberbatch-Artikel: https://www.metro.us/tiff-benedict-cumberbatch-is-sick-of-people-calling-his-characters-autistic/

    Kommentare dazu von Autismus-Aktivistin M. Scharnke: https://maria-scharnke.medium.com/benendict-cumberbatchs-comments-about-autism-6-years-on-hey-he-said-this-ff0d53b99bc2

    Jessica Kellgren-Fozard: Autism Tropes in Media [CC]

    Ähnliches Video auf Deutsch: Talkshow | Klischees über Autismus | Das denken Autist:innen https://www.youtube.com/watch?v=Xx35QnA2IAk&t=140s

    Das Problem mit Sheldon Cooper, Kommentar von Luke (engl.): https://youtu.be/k7q2A3ic0-w?t=1414

    Atypical, Kommentar von Connor Ward: Autistic Person Reacts to Netflix's "Atypical" Season 2 Trailer

    Frauen und Autismus: https://www.auio.tv/de/blog/2020/5/frauen-und-autismus

    Wie diese autistischen Schauspieler dazu beigetragen haben, dass „Atypical“ authentischer wurde: How These Autistic Actors Helped 'Atypical' Increase Its Authentic Representation

    Mehr zum Thema:

    Annette Frier als Autistin: Warum autistische Menschen die ZDF-Serie »Ella Schön« ablehnen: https://sebastianmoitzheim.de/annette-frier-als-autistin-warum-autistische-menschen-die-zdf-serie-ella-sch%C3%B6n-ablehnen-and-wa