ARTplus: Schulabschluss mit Lernbehinderung

     

    Massenhaft Einzelfalle

    Wie der Glaube an Einzelfälle inklusive Schulbildung aktiv verhindert

     Amelie Rogge

    45% aller Kinder mit Behinderung besuchen in Deutschland eine Förderschule. Mit dem Verlassen der Schule erhalten sie keinen anerkannten Schulabschluss. Wird dieser nicht an einer Berufsfachschule nachgeholt, führt der berufliche Weg meist in die Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Doch die Wut darauf wächst. Die Wut auf ein System, das so undurchlässig ist, dass ein einziges Gutachten im Kindesalter ausreichen kann, um eine Person ihr ganzes Schulleben lang fälschlicherweise als “lernbehindert” einzustufen: Nenad M. ist Roma und spricht bei der Einschulung noch kein Deutsch. Sein IQ wird deshalb falsch eingeschätzt. Vermutlich, weil er damals die Aufgaben einfach nicht versteht. Er kommt auf eine sogenannte Schule für „geistige Entwicklung“. Obwohl er immer wieder den Wunsch äußert, auf eine Regelschule zu wechseln und sich seine sprachlichen Leistungen verbessern, erfolgt keine Versetzungsempfehlung. Nach dem Verlassen der Förderschule – ohne Abschluss – findet er keinen Arbeitsplatz und wird am Arbeitsmarkt deutlich diskriminiert. Ein erneuter IQ-Test ergibt, dass 11 Jahre zuvor eine falsche Einschätzung getroffen wurde.

    Raúl Krauthausen hat die Geschichte schon einmal hier aufgegriffen und erklärt, dass regelmäßig überprüft werde, ob er immer noch einen Rollstuhl oder Assistenz benötige. Körperliche Behinderungen verschwinden also über Nacht, aber geistige Fähigkeiten können sich nicht verbessern? Wie passt das zusammen?

    Das deutsche Bildungssystem hat sich seit 1945 in seiner Dreigliedrigkeit nicht mehr wesentlich verändert „mit nahezu je einer Förderschule für jede Behinderung” (Heimlich & Kahlert 2014: 7). Stimmen wurden laut, die behaupteten, dass Nenad M. ein trauriger Einzelfall gewesen sei. Auf rehadat-statistik.de ist jedoch schon in der Zusammenfassung des Teilhabeberichts der Bundesregierung des Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) erkennbar, dass die „Sonderschulbesuchsquote“ auch 2021 nicht wesentlich abgenommen hat. Noch einmal ausdifferenzierter: Fast 88% dieser Kinder und Jugendlichen, die das Label: „Die geistige Entwicklung entspricht nicht der Norm“ tragen, besuchen nie eine Regelschule (vgl. BMAS 2021: 145). Im Bericht steht weiter: „Deutliche Unterschiede bestehen weiterhin hinsichtlich der Schulabschlüsse von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen: Im Jahr 2017 hatten unter den 20- bis 64-jährigen Menschen mit Beeinträchtigungen 8 % (noch) keinen Abschluss (Menschen ohne Beeinträchtigungen: 4,1 %)“ (BMAS 2021: 122), wenn sie keine Förderschule besuchten. Bei Menschen „von der Förderschule“ sind es sogar 71,1 % (ebd.: 123).

    Dabei sind die Bedingungen an Förderschulen (kleinere Klassen, besserer Personalschlüssel) eigentlich dafür geschaffen, um besser auf Individuen eingehen zu können. Und dies wäre doch für alle wünschenswert.

    Während der Recherche sind die maroden Zustände an einer Kölner Förderschule öffentlich geworden. Und bei all der berechtigten Aufregung über bauliche Mängel oder fehlende Barrierefreiheit, stellt der Artikel dazu auch noch ganz nebenbei fest: „Deswegen wurden die Klassen der Berufspraxisschüler und -schülerinnen, die bald in Behindertenwerkstätten einer Arbeit nachgehen werden, ausgelagert“, (Hervorhebung d. Verf.) Ausgelagert zu werden ist jedenfalls kein schönes Gefühl, weil – Achtung! Wichtig! – es die Bildung von Sonderwelten unterstützt. Weil es einfach keine alltäglichen Begegnungen zwischen Lerngruppen mit Menschen mit und ohne Behinderungen gibt. Auch der Inklusionsaktivist Lukas Krämer[1] berichtet 2017, dass die Schule für geistige Entwicklung, die er besuchte, sehr weit im Abseits lag (vgl. Video 1). Gleiches gilt natürlich auch für das Wohnheim, das natürlich gleich nebenan war. Der Weg von der Schule zum Stadtkern wird nur deshalb so lang empfunden, weil drum herum nichts Anderes war und sie also in einer strukturschwachen Gegend lag.

    Darum geht es mir hier auch: Nicht nur darum, dass viele Schulgebäude in Deutschland renovierungsbedürftig sind, egal von welcher Schulform, sondern auch wie über Menschen mit Behinderung gesprochen, geschrieben und berichtet wird. Denn selbst wenn Inklusion schon in wenigen Jahren an allen Schulen Realität sein sollte, glaube ich nicht so recht daran, dass Schulgebäude „über Nacht“ wie von Zauberhand versetzt werden, in die „Mitte der Gesellschaft“, dass sich also Strukturen einfach so ändern, nur weil INKLUSION draufsteht. Es müssen also immer wieder (ehemalige) Schüler und Schülerinnen darauf hinweisen, was in der Schule gut und nicht so gut lief.

    Mobbing ist selbstverständlich ein Problem an Schulen, aber doch eher ein generelles. In allen Schulformen. (vgl. Video 2 von Lukas Krämer). Genauso wie Personalmangel oder die Abwertung von bestimmten Schulabschlüssen und natürlich praktischen Berufen. Auch hier bleiben Schüler:innen mit Behinderung auf Förderschulen benachteiligt. Die Bildungssoziologin Jonna Blanck „stellt heraus, dass Jugendliche aus Förderschulen häufiger als jene aus Hauptschulen Ausbildungen absolvieren, die auf dem Arbeitsmarkt schlecht verwertbar sind. Dazu zählen die außerbetriebliche Fachpraktikerausbildung und theoriegeminderte zweijährige Ausbildungen.“

    Es gibt zumindest einen vielversprechenden Ansatz in Italien. Schulpflichtige gehen hier gemeinsam bis zum Abitur zur Schule und bekommen einen individuellen Bildungsplan, einen „Piano educativo individualizzato“ (PEI). Silvia Barbarotto hat mit Down-Syndrom das Abitur mit der Bestnote von 100 Punkten erreicht (vgl. Bayer 2015). Das Problem ist auch hier, dass das Erreichen des individuellen Bildungsplans nicht gleichwertig mit einem regulären Abschluss ist. Hätte Silvia jetzt Lust zu studieren, müsste sie vielleicht nach Israel ziehen (s. Artikel zur Hochschule für alle). Dort können Menschen mit Down-Syndrom an der Bar-Ilan Universität in Tel Aviv studieren. Aber auch nur Pädagogik (Was Silvia eigentlich nicht will, sondern vielleicht eher Theaterwissenschaften) und auch nur, wenn sie zu den besten sechs gehören würde, hätte sie eine Chance auf einen Bachelor.  Nicht jeder (junge) Mensch muss oder kann nach der Schule studieren, das ist klar. Doch jeder hat meiner Meinung nach das Recht auf eine Ausbildungsperspektive.

    Aber…Das sind jetzt schon wieder so viele: „Ja, aber nur wenn…-Sätze, dass es nicht verwundern sollte, dass viele nicht-behinderte Eltern von behinderten Kindern lange vorher aufgeben. Es sei denn, diese Eltern sind vielleicht selbst auf einer inklusiven Schule gewesen und wissen daher, dass es anders geht. Denn ein „Nein“ zur Inklusion ist oft nicht nur ein „Nein“ zu einem Kind, sondern zu seiner ganzen Familie, das sogar Einfluss auf ganze Generationen haben kann. Gleiches gilt natürlich auch für ein „Ja“ zur Inklusion.

    Deutschland und in gewisser Weise auch Italien haben also Systeme aufgebaut, die wie Einbahnstraßen funktionieren (Förderschule führt in WfbM) und gleichzeitig früher oder später (in Italien später, in Deutschland früher) in einer Sackgasse enden. Denn keines dieser Systeme schafft die Voraussetzungen für einen regulären Abschluss.

    Die Wenigsten bekommen in Deutschland ihren Abschluss geschenkt, egal ob sie eine Behinderung haben oder zufälligerweise gerade nicht. Aber die Umstände, die Schüler:innen mit Behinderung daran hindern, inklusiv am Unterricht teilzunehmen, müssten nicht sein.

    Ich möchte hier keine „harten Ziele“ wiederholen (Schafft das dreigliedrige Schulsystem/ die Förderschulen ab/ Stellt mehr Lehrkräfte ein/ Verkleinert die Klassen etc.) denn obwohl dies alles natürlich berechtigte Forderungen sind, sagen sie nichts über das Wie aus.

    Was müssten wir also anders machen? 

    • Aufhören zu glauben, dass nur es wenige Einzelfälle betrifft, die „aussortiert“ werden und sich stattdessen fragen, wer diese Menschen sind und was sie mitbringen an Hintergrundgeschichten.
    • Die Menschen ernst nehmen, wenn sie sagen, dass sie sich an Förderschulen unterfordert oder im sozialen Abseits fühlen.
    • Mehr Abschlussformen zulassen. Denn instinktiv wissen wir, dass Silvia Barbarotto es verdient hätte, eine Ausbildungsperspektive nach der Schule zu haben. Am besten eine, die zu ihre Fähigkeiten passt.

    Insofern machen Kunst(hoch)schulen vieles richtig, weil sie nach eigenen Angaben eher nach Begabung gehen und weniger nach Schulnoten.

    Weitere Quellen:

    WDR-Bericht zu Nenad M., Teil 1)

    https://www.t-online.de/region/koeln/news/id_90993112/koeln-eltern-entsetzt-ueber-zustaende-an-pestalozzischule-geistige-entwicklung.html

     

    [1] Und weil wir ja immer noch EUCREA sind, verlinken wir euch hier zu seinen Anfängen als Schauspieler im Kurzfilm „London liegt am Nordpol“. Heutzutage beschäftigt ihn jedoch etwas Anderes, nämlich dass sein Antrag auf Arbeitsassistenz abgelehnt wurde. Er arbeitet heute im Social-Media-Bereich.